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4              Die Energetik

Kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in der Gemeinschaft der Naturforscher eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Auffassungen der Wirklichkeit. Diese Auseinandersetzungen betrafen jedoch ausschließlich die Physik und ihre angrenzenden Wissenschaftszweige. Die Auswirkungen auf die Gesellschaftswissenschaften wurden zu dieser Zeit noch nicht in Erwägung gezogen. Auch Ostwald verfolgte diese Linie erst einige Jahre später, obwohl - oder vielleicht weil - er die wichtigsten Vertreter der Physik nicht von seiner Auffassung einer energetischen Weltsicht überzeugen konnte.

In dieser Arbeit soll die spätere, kulturwissenschaftliche Entwicklung im Denken Wilhelm Ostwalds nachvollzogen werden, während die frühere naturwissenschaftliche bereits ausführlich von dem amerikanischen Wissenschaftshistoriker Robert John Deltete bearbeitet worden ist. An dieser Stelle soll kurz auf diesen Aspekt der Energetik eingegangen werden, um zu zeigen, wie Ostwald von seinem ursprünglich ausschließlich naturwissenschaftlichen Arbeitsgebiet auf andere Aspekte der Weltsicht umschwenkte. Zudem macht eine Betrachtung der Energetik in bezug auf physikalisch-chemische Fragestellungen deutlich, wie die Argumentationsweise eines ansonsten exakten Forschers aussah, wenn er sich auf weltanschauliches Terrain wagte. Die oftmals dilettantisch anmutenden Erklärungsversuche soziologischer Vorgänge werden vor dem Hintergrund einer von vorn herein unklaren physikalischen Deutung von Energetik besser verständlich.

Deltete beschreibt in seiner Dissertation die Auseinandersetzung über die verschiedenen Auffassungen von Energetik zwischen Georg Helm (1851-1923)[1] und Wilhelm Ostwald. Dieser Streit drehte sich vornehmlich um die Frage, ob der Energetik eine mechanistische (Helm) oder, wie es Ostwalds Auffassung war, eine thermodynamische Physik zugrundezulegen wäre. Die mechanistische Auffassung geht davon aus, daß die Wirklichkeit von kleinsten Teilchen (Atomen) gebildet wird, die Träger von Energie sind, und deren Energiegehalt ihr Verhalten bewirkt. Demgegenüber kennt eine thermodynamische Sicht nur die Energie als solche, deren eine Form die Materie ist, neben der aber noch andere Formen von Energie bestehen, die mehr oder weniger frei ineinander umgewandelt werden können. Sind auf der einen Seite die mechanischen Eigenschaften der Atome die Grundlage der Erklärung, so sind dies auf der anderen, der thermodynamischen Seite, die Umwandlungsprozesse zwischen den einzelnen Energieformen. Diese Unterscheidung zwischen der kinetisch-atomistischen und der thermodynamischen Auffassung von Energetik ist hier nicht so relevant, zumal Ostwald nach der Jahrhundertwende trotz vorheriger strikter Ablehnung, die Atomistik, nach Entdeckung der Röntgenstrahlung und der damit verbundenen experimentellen Einbeziehung des Größenordnungsbereiches der Atome im Jahr 1896, wieder anerkannte.[2]

„Ich habe, nachdem die Entwicklung eingetreten war, nicht unterlassen, öffentlich zu erklären,  daß damit meine früheren Bedenken gegen die Zweckmäßigkeit der Atomlehre beseitigt waren und ihre wissenschaftliche Berechtigung vermöge ihrer sachlichen Erfolge keinen Zweifel mehr unterliegt.“[3]

Seine Auffassung von Energetik stieß schon auf der Lübecker Naturforscherversammlung 1895 bei vielen Wissenschaftlerkollegen auf völliges Unverständnis. Sein Vortrag Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus[4] hatte für großes Aufsehen gesorgt. Die Kollegen hielten an der Newtonschen Mechanik ebenso fest, wie Ostwald und wenige andere an deren Überwindung. „Es war mir eine [...] geläufige persönliche Erfahrung, daß ein Gegner sich ganz außer Stande sah, meine Auffassung überhaupt in den Rahmen seines Denkens einzuschließen“[5] Danach wundert es wenig, wenn Deltete feststellt, daß, obwohl Ostwalds frühere Arbeiten von experimenteller Gründlichkeit und sorgfältiger Wortwahl geprägt waren, „those of the late 1890s became increasingly dogmatic“[6] Eine Auseinandersetzung über diesen ‘Paradigmenwechsel’ hinweg scheint nicht möglich gewesen zu sein. Von da an wird auch die Aufarbeitung der Ostwaldschen Energetik für die Naturwissenschaftshistoriker heutiger Zeit uninteressant, weil „global references to ‘Monismus’ and ‘Weltanschauung’ replaced detailed discussions of chemical affinity and radiant energy“[7]. In diese Zeit fiel auch Ostwalds Abschied aus der Leipziger Universität und sein Übergang in den Stand eines Privatgelehrten. Nun wandte er die Energetik - hauptsächlich im Rahmen der monistischen Bewegung - auf Biologie und Psychologie an. Für die Biologie war seine grundlegende Erkenntnis die, daß lebende Gebilde stationäre Systeme seien, d. h. Systeme, die ihre äußere Form und ihre inneren Funktionen durch stetigen Durchfluß von Energie und Stoffen (Energie- und Stoffwechsel) aufrechterhalten können. Folglich seien lebende Gebilde energetisch beschreibbar. Für die Psychologie war die Grunderkenntnis die, daß jegliche Wahrnehmung der Welt über die den Energiestrom aufnehmenden Sinnesorgane geschehe, und daß dieser Energiefluß dann auch energetisch über die Nervenleitung weiterverarbeitet würde. Diese Auffassung von der Rolle der Energie in lebenden und psychischen Systemen ist zwar nachvollziehbar, aber experimentelle Beweise versuchte Ostwald hier - im Gegensatz zu jeglicher chemisch-physikalischer Behauptung - an keiner Stelle zu erbringen. Noch vager wird die Situation, als er den Versuch unternahm, die Energetik auch auf die Sozialwissenschaften zu übertragen. Obwohl er in seiner Pyramide der Wissenschaften klar zwischen den energetischen und den übrigen Wissenschaften unterscheidet, wird diese Unterscheidung oftmals etwas verschwommen, weil er auch sein philosophisch-weltanschauliches Gebäude, also die Gesamtheit, mit Energetik bezeichnet. Wenn man hier deutlich trennt zwischen der Energetik als sozusagen wissenschaftliche Disziplin, und der wenig überzeugenden philosophischen Energetik, dann könnte man klarer die Vorteile seiner Auffassung der Einheit der Wissenschaften erkennen.

„Fragt man mich, worin ich den Hauptgedanken der Energetik sehe,“ schreibt Ostwald in seiner Autobiographie, „so muß ich als solchen die Erkenntnis bezeichnen, daß neben und über den allgemeinen Begriffen Ordnung, Zahl, Größe, Zeit und Raum der Begriff der Energie einzuführen ist als der nächst folgende Allgemeinbegriff.“[8] Hier ist die Energetik eindeutig auf die Physik begrenzt, ebenso wie in einem nachfolgenden Kapitel über die Allgemeine Energetik[9]. Auch in der Pyramide der Wissenschaften von 1929 wird deutlich unterschieden zwischen Ordnungs-, energetischen, biologischen und soziologischen Wissenschaften. In diesen späteren Schriften ist also klar erkennbar, daß Energetik sich nicht auf eine allgemeine Weltanschauung beziehen sollte, sondern daß es sich dabei nur sozusagen um eine wissenschaftliche Disziplin handelte. In den Schriften aus seiner dogmatischen, monistischen Phase wurde diese Unterscheidung nicht, oder nur viel zu schwach gemacht.

4.1     Begriffsbestimmungen

4.1.1     Der Energiebegriff bei Wilhelm Ostwald

Wilhelm Ostwald „versteht unter Energie [...] Arbeit, sowie alles, was aus Arbeit entstehen und in Arbeit zurückverwandelt werden kann“.[10] Daß „Arbeit [...] eine Größe [ist], welche durch das Produkt aus Kraft und Weg gemessen wird,“[11] zeigt er gerne am Beispiel des Arbeiters, der ihm seine 20 Sack Kohlen vom Hof in den zweiten Stock seines Hauses hinaufträgt. Diese Form der Energie wächst mit dem Abstand der Kohlen von der Erde, und wird somit Distanzenergie genannt. Eine andere Form, die Oberflächenenergie wächst mit der Größe der Oberfläche bei gleichbleibender Stoffmenge und ist hauptsächlich bei Flüssigkeiten zu beobachten. Die Volumenergie ist eine wichtige Größe bei Gasen, sie wächst mit abnehmendem Volumen bei gleichbleibender Gasmenge, also bei steigendem Druck. Eine weitere Form ist die Bewegungsenergie, sie ist um so größer, je schneller ein Körper ist. Neben diesen mechanischen Energiearten erläutert er Wärme, Licht, elektrische und magnetische Energien sowie chemische Energien und deren Umwandlungen ineinander anhand von allgemeinverständlichen Beispielen. Elektrische Energie entsteht, wenn elektrisch geladene Körper, die sich je nach Ladung anziehen, bzw. abstoßen, durch Überwindung der Anziehungskraft bzw. Abstoßungskraft getrennt, bzw. zusammengebracht werden. Durch Reibung kann man mechanische Arbeit in Wärme umwandeln. Chemische Energie läßt sich z.B. mit Hilfe von Benzinmotoren in mechanische Arbeit umwandeln. Die nichtmechanischen Energiearten, wie Wärme, Licht oder Elektrizität werden im Grunde immer nur gemessen, indem man sie in mechanische Arbeit umwandelt, um die daraus resultierende Last sowie den zugehörigen Weg zu bestimmen. So wird beispielsweise eine elektrische Spannung gemessen, indem diese auf den Zeiger des Meßinstrumentes eine Kraft ausübt und ihn somit um einen bestimmten Weg weiterbewegt.

Im Gegensatz zur (damals üblichen) Betrachtungsweise, daß Materie und Energie zwei getrennte, gleichzeitig bestehende Realitäten darstellen, führt Ostwald die Ansicht ein, daß Materie lediglich „die Anwesenheit verschiedener Energien an derselben Stelle“[12] sei. Die materialistische Auffassung war die, daß die Materie Träger der Energie sei, also eigene Realität besitzt. Die energetische dagegen beschreibt alle Eigenschaften der Materie als Eigenschaften der Energie und erklärt somit den Materiebegriff für obsolet. „Die Energie bedarf keines Trägers, sie ist selbst das Wirkliche. Deshalb interpretierte er [Ostwald] die Masse eines Körpers nicht als Träger, sondern als Erscheinungsform der Kapazität von Bewegungsenergie.“[13] Volumen, Form, Masse, elektrische Ladung oder Entropie werden als Extensitäten bezeichnet und sind Eigenschaften der entsprechenden Energien: Volumenergie, Formenergie, Bewegungsenergie, elektrische Energie und Wärmeenergie. Diese können höhere oder niedrigere Intensitäten annehmen, die man Druck, (Verformungs-) Spannung, Geschwindigkeit, (elektrische) Spannung und Temperatur nennt. Körper unterschiedlicher Extensitäten lassen sich teilen oder addieren, Körper unterschiedlicher Intensitäten dagegen nicht; letztere gleichen ihre Intensitäten einander an.[14] Im Anschluß an William John Rankines (1820-1872) ist Ostwald also der Auffassung, „daß die verschiedensten Energien übereinstimmend sich als Produkt zweier Faktoren darstellen lassen, [die er] vorläufig als Intensitäten und Extensitäten bezeichnet“[15].

Es gibt an keiner Stelle eine vollständige, oder auch nur vorläufige Aufstellung aller bekannter Energiearten. Ostwald ist hierzu kaum in der Lage, weil er für annähernd jeden neuen Fall des Auftretens von Energie eine neue Form der Energie erfindet oder benennt. Nach seiner Einteilung ist beispielsweise die chemische Energie nicht einfach eine einzige Energieform, sondern eine Auflistung unzählig vieler ineinander überführbarer Arten von Energie: „Nun gibt es aber insgesamt 92 chemische Elemente, die sich meist untereinander verbinden können. Wenn jedes Element mit jedem anderen nur eine Verbindung bildete, so wäre die Anzahl der Paare 92 X 91 geteilt duch 2 = 4186. Tatsächlich verbinden sich die Elemente in mehreren Verhältnissen und zu dreien, vieren usw., so daß die Anzahl der bisher bekanntgewordenen Verbindungen oder Stoffe einige Hunderttausend beträgt. Und jeder dieser Stoffe hat seine eigenen Beziehungen zu Wärme, Elektrizität, Licht usw.“[16] An anderer Stelle schreibt er, daß die Eigenschaften der chemischen Körper wechseln „in der mannigfaltigsten Weise, entsprechend der sehr großen Mannigfaltigkeit der chemischen Energie selbst“[17] Seine selbst gesetzte Maxime der möglichst einfachen wissenschaftlichen Erklärung wird hier mißachtet. Er kann keine Erklärung dafür liefern, wie die verschiedenen Formen der Energie ineinander übergehen. Geschieht etwas mit einer Menge an Energie, dann erhält sie einfach einen neuen Namen, und bei dieser fast inflationären Formenvielfalt fällt es selbst Ostwald schwer, viel mehr aber noch dem Leser seiner Schriften, die entsprechenden Extensitäten und Intensitäten zu benennen. Einen Begriff für die Extensität der chemischen Energie bleibt er schuldig, und bei der Intensität behilft er sich mit der Umschreibung als chemisches Potential.

 Was denn das Gemeinsame an den verschiedenen Energieformen ist, wird an keiner Stelle der vielfältigen energetischen Literatur Ostwalds geklärt. Einzige Grundlage für die Annahme, daß es sich in jedem Fall um die gleiche Realität handelt, bildet die empirische und die mathematische Umwandelbarkeit, wobei die mathematisch verwendeten Umrechnungsfaktoren z.T. empirisch bestimmt worden sind.

Bei den Vorgängen des Lebens, des Geistes oder der Gesellschaft bezieht sich Ostwald auf die oben beschriebenen physikalischen und chemischen Energieformen. Gelegentlich tauchen hier Begriffe auf wie „Nervenenergie“[18], „psychische Energie“[19] oder „menschliche Energien“[20]. Es wird aber deutlich, daß es sich dabei um komplexe Zusammenstellungen der genannten physikalischen und chemischen Formen handelt. Das Maßgebliche ist hier nicht die Form, sondern die „Energieorganisation“[21].

Energie, bzw. Arbeit kann weder geschaffen, noch vernichtet werden (1. Hauptsatz der Energetik bzw. der Thermodynamik). Wird irgendwo Arbeit verrichtet, dann wird an anderer Stelle genau der gleiche Betrag einer anderen Energieart verbraucht. Die verschiedenen Energiearten können ineinander umgewandelt werden, es kann aber weder Energie geschaffen, noch vernichtet werden. Dies wird bis heute als Energieerhaltungssatz bzw. 1. Hauptsatz der Thermodynamik gelehrt und geht zurück auf eine Arbeit von Julius Robert Mayer aus dem Jahr 1842.[22] Daraus wird geschlossen, daß ihre Summe in der Welt immer dieselbe bleiben muß. Was sich ständig ändert, ist die Form der Energie, denn „alles Geschehen besteht in Energieumwandlungen“[23]. Man kann also zu jeder Zeit die Gesamtenergiebilanz erstellen, um alle Einzelbeträge überprüfen zu können. Solche Umwandlungen sind jedoch niemals vollständig zwischen genau zwei Energiearten, sondern ein gewisser Anteil geht immer in andere Formen, meist Wärme über, d.h. die Energie geht als ‘nutzlose’ Wärme ‘verloren’. Dies ist die Aussage des, auf R. Clausius (1856) zurückgehende 2. Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, daß Intensitätsunterschiede von verschiedenen Energiearten (Druck, Temperatur, Spannung etc.) sich stets irreversibel ausgleichen. Die moderne Thermodynamik leitet aus diesen beiden Sätzen viele Gesetzmäßigkeiten chemischer und physikalischer Vorgänge ab. An dieser Stelle kommt in der Energetik ein sehr stark anthropozentrisches Weltverständnis zum Tragen, denn Ostwald unterscheidet, zwischen besseren und schlechteren Energien, und meint damit, daß es Formen von Energie gibt, die dem Menschen und seinen Zielen der Selbsterhaltung und der Arterhaltung besser dienen als andere. Der Anteil, der bei der Umwandlung von der einen zur anderen Energieform in eine weitere, nicht erwünschte Form abhanden kommt, wird als Verlust angesehen. Die Ingenieure haben dafür den Begriff des Wirkungsgrades (einer Maschine) geprägt, Ostwald spricht hier vom ‘Güteverhältnis’ bei der Umwandlung von ‘Rohenergie’ in ‘Nutzenergie’: „Nutzenergie = Güteverhältnis x Rohenergie“[24]. In dieser Betrachtung zeigt sich Ostwalds teleologisches Weltverständnis, nämlich daß die Welt eine Entwicklung zum Guten hin durchmachen soll. Wie an vielen Stellen beschränkt sich Ostwald hier nicht auf eine analytische Betrachtungsweise, sondern wertet implizit und oftmals auch explizit das Beschriebene, wenngleich er damit vielleicht nur in der Darwinschen Tradition eine Begründung dafür liefern will, daß der Mensch im Konkurrenzkampf mit der Natur so ‘erfolgreich’ ist.

4.1.2     Der Kulturbegriff bei Wilhelm Ostwald

Wenn Ostwald von der Energie eine detaillierte naturwissenschaftliche Vorstellung besitzt, die er für seine Energetik oft umdeutet, so fallen für den Kulturbegriff seine detaillierten wissenschaftlichen Kenntnisse fast völlig weg. Hier werden Forschungsergebnisse für die verschiedensten Fragestellungen aus der bloßen alltäglichen Anschauung vorweggenommen und Schlußfolgerungen zu Grunde gelegt, ohne jemals konkret überprüft worden zu sein. Wie diese Vorstellung der Kultur bei Ostwald aussieht, soll im diesem Abschnitt kurz beschrieben werden.

Kultur hat in den Schriften Ostwalds zwei grundlegende Aspekte. Einerseits werden viele verschiedene Teilbereiche benannt, die zusammen eine Kultur darstellen. Dazu gehören handwerkliche Fähigkeiten und Werkzeuge, Verkehrsmittel, Wirtschaft, internationale Normen und Einheiten, Recht, Sprache, Kunst, Staat, Wissenschaft, Ethik, um nur einige Dinge zu nennen, die er unter der Überschrift Kultur abhandelt. Es ist nicht die ästhetische Kultur der Geisteswissenschaft gemeint, sondern umfassend, die „Gemeinsamkeit aller geistigen Güter, die aus den Leistungen einzelner in den Zustand des sozialen Besitzes übergegangen sind“[25]. Auf der anderen Seite hat Kultur einen Entwicklungsaspekt. Auf die Frage, „was ist Kultur?“, antwortet Ostwald „die Verbesserung des ökonomischen Koeffizienten der umgewandelten Energie“[26]; oder noch deutlicher: „als Kultur wird sachgemäß alles bezeichnet, was dem menschlich-sozialen Fortschritt dient“[27]. Und Fortschritt bedeutet immer die „Verbesserung des Umsatzverhältnisses der rohen Energien, wie sie die Natur darbietet, für menschliche Zwecke“[28].

In vielem erinnert dieser Kulturbegriff an den Gegenstand der Lamprechtschen Geschichtsschreibung, die sich weniger der Frage „wie ist es eigentlich gewesen?“ widmet, als der Frage „wie ist es eigentlich geworden?“[29]. Lamprecht nennt dies, mit den Worten Friedrich Schillers, eine „neue Methode, die vom genetischen Standpunkte aus eindringt“[30] und bewundert, daß die genetische Naturwissenschaft zu seiner Zeit bereits erwachsen sei. Der Blick Ostwalds richtet sich weniger in die Vergangenheit, als in eine (bessere) Zukunft. So glaubt er, daß mit Hilfe des energetischen Imperativs sich in allen Bereichen der Kultur Fortschritte erzielen lassen, die zu deren Verbesserung beitragen. Der kulturelle Fortschritt ist in den verschiedenen Teilen der Welt unterschiedlich gediehen. So gibt es, nach Ostwalds Meinung, drei Zentren höchster Kultur auf der Welt: Mitteleuropa, Ostasien und Nordamerika. Um diese Zentren herum gruppiert sich jeweils einen Kranz von mittelmäßig entwickelten Kulturen, und der Rest der Welt ist primitiv. Ostwald möchte eine Kultur an dem Umsatz an Energie und dessen Verwertungsgrad messen. Er schlägt vor, solche Untersuchungen an dem „so überaus verwickelten Kulturleben“ in Zukunft durchzuführen, er weiß jedoch schon vorher, was dabei herauskommt: „Wir können schon jetzt das Ergebnis dieser Untersuchung vorausnehmen, daß tatsächlich jede einzelne Form unserer systematischen Kulturentwicklung ihre Berechtigung und auch ihre Wertstufe durch das Maß erhält, in welchem ihr die Lösung der Aufgabe gelungen ist, eine möglichst große Leistung mit einem möglichst geringen Energieaufwand zu bewerkstelligen.“[31]

4.2     Zentrale kulturwissenschaftliche Werke

4.2.1     Pyramide der Wissenschaften

Auf der Grundlage des Monismus ist Wilhelm Ostwald bestrebt, das gesamte Wissen der (europäischen) Kultur in ein einheitliches System zu ordnen, indem er die empirischen Wissenschaften in eine hierarchische Beziehung zueinander setzt. Dabei sind, wie wir sehen werden, alle Wissenschaften empirisch, oder sinnlos. Ostwald versucht nun die Vereinigung der Geistes- mit den Naturwissenschaften in der Pyramide der Wissenschaften. Er bemerkt, daß die stetige Aufsplitterung und Spezialisierung der Disziplinen, die „bei der Begrenztheit des menschlichen Geistes mit Notwendigkeit zu [...] einer immer enger werdenden Beschränkung des Umfanges, den der einzelne Wissenschaftler beherrschen kann“[32], zum Verlust des Überblicks führt. Um jedem Einzelforscher die Übersicht über den gesamten Zusammenhang aller Wissenschaften zu erleichtern, schreibt er 1929 das kleine Bändchen Die Pyramide der Wissenschaften in Form eines fiktiven Dialoges. Der Aufbau des 1901 erschienenen Werkes Vorlesungen über Naturphilosophie läßt allerdings vermuten, daß die Struktur dieses Gedankens schon sehr viel früher entstanden war. Tatsächlich bestätigt Ostwald dies in seiner Autobiographie. Das Bild der Pyramide geht auf das Jahr 1903 zurück, als er, nachdem er Comtes Wissenschaftsanordnung kennengelernt hatte, diese dann nach seinen Vorstellungen ausbaute. In der Forderung des Tages (1904) beschreibt er dann das Schema der stufenweisen Anordnung der Wissenschaften.  Danach ist die Lehre von den Dingen aufgeteilt in drei Bereiche, die Mathematik, die Energetik und die Biologie. Die Mathematik ist ihrerseits aufgegliedert in Ordnungslehre, Arithmetik, Zeitlehre und Geometrie; die Energetik in Mechanik, Physik und Chemie; und die Biologie in Physiologie, Psychologie und Soziologie. Dies entspricht im Ansatz bereits dem späteren Aufbau der Pyramide der Wissenschaften, wobei jedoch noch einige Verfeinerungen gemacht werden. In der 1908 erschienenen Schrift Die Energie, die im Prinzip ebenfalls die Pyramide beschreibt, beendet Ostwald die gemeinverständliche Darlegung des Energiegedankens mit einem Kapitel über soziologische Energetik, in dem er erstmals näher auf dieses Gebiet eingeht.[33] Der Aufbau dieser Pyramide soll auf den folgenden Seiten skizziert werden.

Grundlage aller Wissenschaft ist nach Wilhelm Ostwald die Gesamtheit der menschlichen Sinnesempfindungen. Das Gedächtnis, das im Gehirn, dem Denkorgan, sein Zentrum hat, speichert diese Wechselwirkungen mit der Außenwelt, um dann mit Hilfe der Vernunft ursächliche oder entwicklungsmäßige Schlüsse zu ziehen. Sinneswahrnehmungen sind für Ostwald Auswirkungen von Energieunterschieden in der Umwelt. D.h., alles, was wir wahrnehmen, sind wie auch immer angeordnete Energien. Diese Energien werden in den Sinnesorganen umgewandelt in Nervenenergie, die ihrerseits dann die physiologische Struktur des Gehirns, des Denkorgans geringfügig modifiziert, wodurch das Gedächtnis zustande kommt. Ostwald bezieht sich hier auf den Physiologen Ewald Hering, der postuliert hatte, „daß jede Betätigung eines Lebewesens das Organ, in dem sie verlief, verändert zurückläßt“ [34]. Hier wird klar, daß auch geistige Betätigungen als physikalisch-chemische Prozesse gesehen werden und somit mit den gleichen Methoden, wie andere physiologische Prozesse zu untersuchen sind (wenn auch nicht erschöpfend).

Für Ostwald ist Wissenschaft empirische Wissenschaft[35]. Es geht darum, wie die Wirklichkeit, die er als gegeben nicht in Frage stellt, zu beschreiben ist. Dabei ist absolutes Wissen nicht zu erreichen, sondern immer nur eine mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit der Fakten. Dies entspricht der Unmöglichkeit von Beweisen, so wie sie später Karl R. Popper mit dem Satz „ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.“[36] beschrieben hat. Ostwald geht davon aus, „daß die Erlangung einer absoluten, d.h. keinem denkbaren Einwand unterworfenen Gewißheit nicht möglich ist. Alles was man erreichen kann, ist der Nachweis, daß von den verschiedenen zu Gebote stehenden Annahmen eine gewisse die zweckmäßigste und angemessenste ist.“[37]

Wissenschaft dient dazu, die Zukunft - in begrenztem Rahmen - vorherzusagen. Aus der Erfahrung, wie sich eine Anordnung unter den gegebenen Umständen früher verhielt, kann der Wissenschaftler mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wie sie sich in diesem besonderen Fall verhalten wird.  Interessanterweise degradiert Ostwald Geschichte und Philologie zu bloßen Hilfsmitteln der eigentlichen Wissenschaft, da sie zwar in der Lage sind, Vergangenes zu beschreiben, dieses aber nicht in Bezug zur Zukunft setzen. Wissenschaft hat - wie alles in der Welt - einen Zweck: den Zweck der Verbesserung des Güteverhältnisses zwischen der für die Entwicklung des menschlichen Daseins nutzbaren Energie und der verschwendeten, d.h. nicht zu diesem Zweck ‘dissipierten’ Energie. Geschichte ist aus seiner Sicht eine Methode des Gedächtnisses, ohne methodischen Bezug auf Gegenwart und Zukunft und somit an sich zwecklos.

Die Pyramide ist in der Darstellung von 1929 aus fünf Stufen gebaut, wobei Ausbaumöglichkeiten nach unten wie nach oben, sowie eine innere Ausdifferenzierung offengelassen werden. Von unten nach oben kommen nacheinander die Ordnungswissenschaften, die energetischen Wissenschaften, die biologischen Wissenschaften, die soziologischen Wissenschaften und zu oberst die Wissenschaftstheorie, die er Philosophie nennt[38]. Letztere wird allerdings nur im Schlußsatz als oberste Stufe der Pyramide angedeutet, indem er auf die Frage, was unter Philosophie zu verstehen sei, antwortet, daß es sich um jene Wissenschaft handelt, „welche alle einzelnen Wissenschaften zu einer großen Einheit zusammenfaßt und über allen steht“.[39]

Das Gefüge der übrigen vier Stufen ist so zu verstehen, daß jede höhere Stufe der nächst tieferen etwas voraus hat, die höhere Stufe jedoch alle tieferen voraussetzt und beinhaltet. So ist beispielsweise die Mathematik als Teil der untersten Stufe (der Ordnungswissenschaften) Teil aller höher gelegenen Wissenschaften; sie ist bei den energetischen Wissenschaften mit der Physik und der Chemie deutlich besser entwickelt als bei der Soziologie (nicht nur seiner Zeit), aber nichts desto weniger ist die Mathematik auch hier essentieller Bestandteil.

Abbildung 1: Pyramide der Wissenschaften[40]

„Hier [in der Pyramide der Wissenschaften] erweisen sich die Begriffe jeder unterliegenden, allgemeineren Wissenschaft als notwendige Bestandteile der höheren. Daraus geht hervor, daß auch für die Lebenswissenschaften Physiologie, Psychologie und Soziologie der Energiebegriff notwendig ist. Er ist aber nicht zureichend, sondern diese Wissenschaften bedürfen der Ergänzung durch neue, ihrer eigenen Welt erwachsene Begriffe. So hat allerdings das Leben eine energetische Grundlage; es kann aber durch den Energiebegriff (und die allgemeineren Begriffe der Ordnungswissenschaften) nicht zureichend beschrieben werden, sondern bedarf selbständiger Begriffsbildungen, die ihm eigen sind.“[41]

Gemeint ist also, daß jede Wissenschaft eine inhaltliche und begriffliche Eigenständigkeit besitzt, daß sie aber den Erkenntnissen der hierarchisch tiefer liegenden Disziplinen nicht widersprechen dürfen. Der Untersuchungsgegenstand jeder Stufe der Pyramide der Wissenschaften wird repräsentiert durch einen eigenen ‘Begriff’: Ordnung bei den Ordnungswissenschaften, Energie in den energetischen, Leben bei den biologischen, Gesellschaft bei den soziologischen Wissenschaften. So ist Energie nicht ohne Ordnung beschreibbar, Leben nicht ohne Energie, Gesellschaft nicht ohne Leben und Wissenschaft nicht ohne Gesellschaft. Dieser Aufbau beinhaltet aber auch, daß die in unteren Schichten für richtig gefundenen Gesetze auch in den höheren Wissenschaften ihre Gültigkeit haben. Anders gesagt, die Naturgesetze gelten auch für die Biologie und die Soziologie. Sie sind notwendig, jedoch nicht hinreichend, um Leben bzw. Gesellschaft zu erklären. Um jedoch verstehen zu können, wie sich die einzelnen Teile zueinander verhalten, muß zuerst der Aufbau des Gebäudes beschrieben werden. Abbildung 1 wurde nach der Darstellung der Pyramide der Wissenschaften von 1912 gezeichnet. Sie entspricht nicht genau der hier folgenden Beschreibung, die hauptsächlich der Darstellung von 1929 folgt.

4.2.1.1     Ordnungswissenschaften

Basis des Systems bilden die Ordnungswissenschaften. Hier ist die Gesamtheit der Begriffe, Zahlen, Maße und deren Beziehungen untereinander zu finden. Dazu gehört neben der Logik, gesamten Mathematik und der Geometrie, die Sprachwissenschaft, worunter er jedoch nicht die Philologie, sondern das versteht, was heute mit Linguistik bezeichnet wird. Als ‘angewandte Wissenschaften’ sind hier sämtliche Normungs- und Nomenklaturbestrebungen angesiedelt. Die beschreibenden Dimensionen sind der dreidimensionale Raum, die Zeit, sowie das Gewicht. Es handelt sich bei der Ordnungslehre um eine rein abstrakte Gedankenwelt.

Der erste Band der 1914 erschienenen Modernen Naturphilosophie, zu der es keine weiteren Bände mehr gegeben hat, da Ostwald sich danach mehr und mehr der Farbenlehre zuwandte, trägt den Titel Die Ordnungswissenschaften. Hier ist ausführlich dargelegt, was er unter diesem Begriff subsumiert. Die Kapitelüberschriften lesen sich wie eine Liste der grundlegenden Felder der untersten Stufe der Pyramide: Die Erfahrung - Die Sprache - Die elementaren Begriffe - Die Bildung der Begriffe - Die zeitlichen Sinne - Die Raumsinne - Logik oder Gruppenlehre - Die Mannigfaltigkeit der Gruppen - Die Reihen - Die Zahlen - Die Algebra - Die Größen und ihre Messung - Der Raum - Die Zeit.[42] Es handelt sich also um das vollkommen abstrakte Feld der Begriffe und Zahlen, mit deren Hilfe Wirklichkeit beschrieben werden kann und um die Dimensionen, in denen Wirklichkeit besteht.

4.2.1.2     Energetische Wissenschaften

Wenn man zur Beschreibung der Wirklichkeit zu den Größen von Raum und Zeit, Begriffen und Zahlen die Energie hinzunimmt, dann kommt man zum Gegenstandsbereich von Mechanik, Physik und Chemie, kurz zu den energetischen Wissenschaften. Hier ist der zentrale Begriff der Ostwaldschen Weltanschauung zu finden: die Energie. Und hier wird es deutlich, daß Energie nicht, wie aus der Sekundärliteratur immer wieder zu entnehmen ist, das einzige Prinzip, die allumfassende Wahrheit in der Gedankenwelt Wilhelm Ostwalds ist, sondern, daß Energie ihrerseits nur eine von mehreren Kategorien der Welt darstellt. Ostwald geht niemals davon aus, daß es eine Weltformel gibt, mit deren Hilfe man alles beschreiben könnte. Sein Monismus bezieht sich nicht auf die Rückführung aller Erkenntnis auf ein Prinzip, sondern nur darauf, daß alle Begriffe miteinander in Bezug gebracht werden können, daß alle Prinzipien sich nicht gegenseitig negieren dürfen: „Früher glaubte man irrtümlich, es lasse sich alles aus einem Prinzip ableiten, und da mußte natürlich der ganze Bau zusammenfallen, wenn der einzige Haken locker wurde, an dem er befestigt war.“[43] Es geht ihm vielmehr darum zu zeigen, daß die Wirklichkeit aus verschiedenen aufeinander aufbauenden, ineinander verschachtelten Stufen besteht, die jede für sich eigene Gegenstandsfelder für wissenschaftliche Disziplinen bilden.

„Energie ist Arbeit und alles, was aus Arbeit entstehen oder sich in Arbeit verwandeln kann.“[44] Arbeit wird danach in der Pyramide als ‘Last mal Weg’ definiert, der um die Jahrhundertwende gängigen physikalischen (mechanistischen) Definition. An anderer Stelle[45] beschränkt er den Begriff der Energie nicht so rigoros auf den mechanistischen Standpunkt, sondern legt vielmehr den Schwerpunkt auf den thermodynamischen Begriff der Wärme. Es verwundert ein wenig, daß in dem späteren Buch der Pyramide ein solcher ‘Rückfall’ in die ausschließlich mechanistische Erklärungsweise auftaucht.

Während er den 1 Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, daß die Gesamtmenge aller Energien konstant ist, findet der, in der - von Ostwald mitbegründeten - physikalischen Chemie immer im gleichen Zusammenhang genannte 2. Hauptsatz der Thermodynamik, an dieser Stelle keine Berücksichtigung. Dieser Satz wird zur Erklärung von Zeit herangenommen und ist Ostwald sehr wohl bekannt.[46] Die Aussparung des 2. Hauptsatzes verwundert insofern, als er für alle energetischen Vorgänge die Richtung angibt, und somit - nach der Auffassung Ostwalds - nicht nur in der Thermodynamik, sondern auch in der Biologie und in der Soziologie Erklärung für Vorgänge liefern könnte.

Die energetischen Wissenschaften, bestehend aus der Mechanik, der Physik und der Chemie interessieren sich, zusammenfassend gesagt, für die Veränderungen der Energieverteilung, die sie auf der Grundlage der Begriffe der Ordnungswissenschaften beschreiben. Es gibt, wie in Kapitel 4.1.1 bereits besprochen, unzählig viele Energiearten. „Für jeden dieser Fälle [von Umwandlungen einer Energieart in eine andere] ist im ausgeführten Schema dieses Teils der Wissenschaftspyramide ein Fach vorzusehen, welches die entsprechenden Kenntnisse aufzunehmen hat“[47]. Wie mit diesen Tausenden von Teildisziplinen allerdings ein hierarchisches Stufenschema aussehen könnte, bleibt ein Rätsel. Ostwald verweist hier auf die Ordnungswissenschaften. Diese können jedoch nach der Beschreibung der Pyramide die über ihr liegenden Wissenschaften höchstens horizontal ordnen, niemals aber in der Vertikalen. Dies ist auch der Hauptkritikpunkt an der Energetik. Ein solcher Ansatz in den Naturwissenschaften bringt ganz sicher wenig Vorteile sondern eher Verwirrung.

4.2.1.3     Biologische Wissenschaften

Die dritte, größere Stufe der Pyramide bilden die biologischen Wissenschaften: die Physiologie und die Psychologie, in den früheren Darstellungen wird hier auch die Soziologie angeführt. Wir wollen diese aber, wie Ostwald 1929, getrennt behandeln. Die Gesetze, die sich aus den energetischen Wissenschaften ergeben, finden in den biologischen Wissenschaften volle Anwendung. Die Gebilde, mit denen sich diese Disziplinen beschäftigen unterscheiden sich von jenen der tieferen Stufe dadurch, daß sie Leben besitzen. Den Begriff des Lebens versucht Ostwald zu umschreiben als „die Summe der Eigenschaften, durch die sich Lebewesen von leblosen unterscheiden“[48]. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal, das er anführt, ist das fließende Gleichgewicht lebender Körper, im Gegensatz zum statischen Gleichgewicht in der unbelebten Natur. Das bedeutet, lebende Gebilde befinden sich in einem ununterbrochenen Energie- und Stoffwechsel, auch wenn sie sich äußerlich nicht verändern. Zudem sind lebende Gebilde in der Lage, die stofflichen und energetischen Quellen für diese Vorgänge selbsttätig zu erschließen, also nicht, wie eine Kerzenflamme, die im Prinzip auch ein Fließgleichgewicht darstellt, einfach zu erlöschen, wenn kein Energieträger (Wachs) mehr vorhanden ist, sondern sich auf Nahrungssuche zu begeben. Weitere Merkmale des Lebens sind die Fähigkeit zur Ausheilung von Verletzungen, das Wachstum und die Fortpflanzung.

Die Physiologie beschäftigt sich mit diesen Energiewechseln in pflanzlichen und tierischen Körpern, während die Psychologie sich mit dem beim Menschen und nur bei manchen Tieren noch zusätzlich vorhandenen Energiewechsel des sogenannten ‘Zentralorgans’, des Gehirns, das zur geistigen Tätigkeit befähigt, befaßt. Sinneseindrücke verändern das Denkorgan und ‘prägen’ auf diese Weise das Gedächtnis auf eine stofflich-energetische Weise. Wie diese Vorgänge vonstatten gehen, dazu verweist er auf spätere Forschungen der Wissenschaften aller Ebenen. Die moderne Hirnforschung, die Bewußtsein im wesentlichen auf physikalisch-chemische, organische Effekte zurückzuführen versucht, gibt Ostwalds enthusiastischem Glauben in die Wissenschaft im Nachhinein recht.

In diesem Zusammenhang sind Zoologie und die Botanik für ihn nur reine Systematiken, die in die Ebene der Ordnungswissenschaft eingeordnet werden. Hier wird die allgemeine Systematik der Pyramide deutlich: Zoologie und Botanik bilden die Anwendung der Ordnungswissenschaft auf die Formen lebender Systeme, die Anwendung energetischer Gesetze auf Vorgänge des Lebens (z.B. Biochemie) bilden einen Teil der energetischen Wissenschaften, während die Untersuchung von Ernährung, Selbstheilung oder Fortpflanzung ausschließliche Aufgabe der dritten, biologischen Stufe ist.

4.2.1.4     Soziologische Wissenschaften

Die vierte große Stufe ist die soziologische Wissenschaft. Eine detailliertere Feinabstufung wird zwar immer wieder angedeutet, aber nirgends konkretisiert. Wieder kommt gegenüber der tieferen Stufe ein neuer Begriff hinzu, der zwar mit den vorhandenen Begriffen beschrieben werden kann, der aber nicht aus diesen zwingend hervorgeht: die Gesellschaft. Die Beschreibung gesellschaftlichen Lebens beruht auf Ordnungslehre, Energetik, Biologie und Psychologie, aber ebensowenig wie es ausreicht, die Physiologie der Zelle zu studieren, um den menschlichen Organismus zu verstehen, reicht es aus, die Psychologie des Individuums zu studieren, um Gesellschaften zu verstehen: „Der menschliche Körper besteht aus einzelnen Zellen; trotzdem gibt es eine Menschenphysiologie außerhalb der Zellenphysiologie. Ich will sagen, daß durch den Verkehr zwischen den Angehörigen einer Gruppe einerseits jeder Einzelne  auf das stärkste beeinflußt wird, und daß andererseits eine Psychologie der Massen besteht, deren Gesetze nur für diese gelten, nicht für den Einzelnen.“[49]

Auch die Soziologie ist wiederum verschränkt mit allen tiefer angeordneten Bereichen. Die Naturwissenschaften in der Soziologie bilden Technik und Industrie, die Mathematik die Statistik, die Physiologie die Anthropologie, die Psychologie die Werbung usw. So wird jedem Teilgebiet der Begriffs- und Methodenapparat der zugrundeliegenden Gebiete zugewiesen.[50] Wie schon erwähnt, werden Geschichte und Philologie zu den Ordnungswissenschaften verbannt, wenn nicht völlig für überflüssig gehalten: Dieses ganze Gebiet befindet sich noch „auf der vorwissenschaftlichen Stufe [...], da es nach rückwärts gerichtet ist. Die bisherige Arbeit muß notwendig der Vergessenheit anheimfallen, etwa wie die protestantische Theologie des 17. Jahrhunderts.“[51] Hier scheinen persönliche Antipathien Ostwalds zum Vorschein zu kommen, die eigentlich überhaupt nicht in Einklang mit seinen sonstigen Äußerungen über Entwicklung und Fortschritt zu bringen sind, zumal über die Hälfte des Bändchens über die Pyramide aus einer historischen Herleitung seiner Ansichten von Aristoteles über Roger Bacon, d’Alembert und Diderot bis hin zu Auguste Comte und Herbert Spencer besteht.

4.2.1.5     Zusammenfassung zur Pyramide der Wissenschaften

Wenn man das vorangegangene Kapitel zusammenfassend betrachtet, so kann man mit Wilhelm Ostwald zu einer wichtigen Erkenntnis kommen: es gibt nur eine zusammenhängende Welt, diese kann beschrieben werden durch Ordnung und durch Energie. Es gibt Bereiche, mit komplexerer Ordnung, und solche mit weniger komplexer Ordnung. Es kann eine Rangfolge von Energiesystemen mit zunehmender Komplexität beobachtet werden. Die einzelnen Wissenschaften befassen sich mit einzelnen Teilabschnitten dieser Komplexitätsskala und können auf diese Weise hierarchisch angeordnet werden. Indem es nur eine endliche Anzahl von wissenschaftlichen Disziplinen gibt, ergibt sich eine stufenförmige Anordnung. Der Schritt von einer Wissenschaft zur nächsten besteht in einem qualitativen Sprung zu einem neuen Begriff, der in der vorigen keinen Sinn hat. Diese Begriffe haben unterschiedlichen Umfang und Inhalt. Der Grundbegriff der untersten Wissenschaft ist die Ordnung. Der Begriff der Ordnung hat den größten Umfang aller Begriffe, er kann für die Beschreibung aller Phänomene verwendet werden. Sein Inhalt ist jedoch gleich null, da die Aussage, ‘ein bestimmtes Phänomen hat Ordnung’, nach Ostwald immer gilt. Der Begriff der Kultur ist ein Begriff kleinsten Umfanges, er gilt nur für die Beschreibung der komplexen Anordnung ganz bestimmter, hochkomplexer, lebender Organismen. Der Inhalt des Kulturbegriffes ist jedoch sehr groß, da mit der Aussage, ‘ein bestimmtes Phänomen hat Kultur’, die ganze Beschreibung von Anordnung von Energie in Form von lebenden Systemen und die Eigenschaften dieser lebenden Systeme, miteinander Ordnung zu bilden, enthalten ist.

Die Darstellung der Skala der Wissenschaften als Pyramide bildet die dahinterstehende Idee nur sehr unvollständig ab. Mit der sich nach oben verjüngenden Pyramide wird nur der Umfang der jeweiligen Grundbegriffe dargestellt, deren Inhalt würde genau umgekehrt aussehen: eine Pyramide, die auf ihrer Spitze balanciert.

Das Prinzip der Pyramide der Wissenschaften ist trotzdem eine beachtenswerte Systematisierung kultureller Leistungen, dessen Vorteile bei all seinen Fehlern noch nicht erkannt worden sind. Die gegenseitige Durchdringung der Gesellschafts- und der Naturwissenschaften wird bis heute noch nicht so nüchtern wahrgenommen wie hier. Fazit der Beschäftigung mit der Ostwaldschen Pyramide der Wissenschaften ist, daß diese geeignet erscheint, Geistes- und Naturwissenschaftler in eine arbeitsfähige Beziehung zueinander zu bringen. Sie könnte helfen, komplexe Probleme in lösbare Aufgaben für Spezialisten aller Wissenschaften zu zerlegen, und andererseits die Ergebnisse der Spezialisten so zueinanderzuführen, daß ein gemeinsamer Nutzen entsteht.

4.2.2     Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaften

In seinem Buch Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft führt Wilhelm Ostwald den Versuch genauer aus, die  Energetik auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften anzuwenden. Ebenso wie die Kulturwissenschaft energetische Grundlagen hat, so hat sie auch psychologische oder mathematische Grundlagen. Auf 184 Seiten wird in allgemeinverständlicher Sprache in Form von 13 Vorlesungen an einer Vielzahl von Beispielen erklärt, was unter Energetik zu verstehen ist und wie sie in der Kulturwissenschaft zu Ergebnissen führen könnte. Leider beschränkt sich Ostwald auch hier nicht auf Analysen und methodische Vorschläge, vielmehr sind die meisten Gedanken gleich in politischen Forderungen formuliert, wie eine Gesellschaft energetisch am günstigsten aufgebaut sein sollte. Man könnte das Werk in drei Abschnitte gliedern. In einem ersten Abschnitt, den Vorlesungen 1 bis 3 erklärt er vor allem für Nicht-Naturwissenschaftler was unter Energie, dem grundlegenden Begriff zu verstehen ist, und welche Formen von Energie es gibt. Der zweite Abschnitt mit den Vorlesungen 4 bis 7 widmet sich dann der Beschreibung der Lebewesen im Allgemeinen und dem Menschen im Besonderen, in bezug auf energetische Prozesse. Hier werden die allgemeinen Existenzbedingungen der Lebewesen auf der Erdoberfläche beschrieben, die Vorteile, die sich daraus ergeben, daß der Mensch ein leistungsfähigeres Gehirn besitzt, als andere Lebewesen, und wie sich dies auf die Beherrschung ‘fremder Energien’ auswirkt. Die Vorlesungen 8 bis 13 bilden den dritten und letzten Teil des Buches, der die energetischen Prozesse in Gesellschaften betrachtet. Der Prozeß der Entstehung von Gesellschaften aus Einzelwesen wird ebenso beleuchtet, wie verschiedene Einzelaspekte von Gesellschaften, als da sind Sprache, Recht, Wirtschaft, Staatsgewalt und Wissenschaft.

Wilhelm Ostwalds Absicht ist es, den Soziologen die Energetik als Grundgerüst für die Erforschung des Besonderen, welches Gesellschaften ausmacht, an die Hand zu geben. Die Energetik sollte den Soziologen ein Werkzeug zur Ordnung ihres Gegenstandsbereichs liefern. Er bemüht sich, „um eine Grundlegung der Soziologie vom Gesichtspunkt der Energetik aus“[52] und möchte keineswegs die soziale Welt ausschließlich physikalisch erklären[53]. Er erwähnt einleitend ausdrücklich seinen Dilettantismus auf dem Gebiet der Soziologie und befürchtet auch schon das Mißlingen seines Vorhabens, wenn er schreibt: „Aber auch in dem Falle, daß dieser Inhalt sich nicht als Förderung der soziologischen Wissenschaft erweisen sollte, würde es nur an meiner Unfähigkeit liegen, die Anwendung der energetischen Gesetze auf dieses Gebiet erfolgreich durchzuführen“[54]. Er ist sich jedoch seiner Sendung so sicher, daß er fortfährt: „Der Aufgabe, ihre Probleme im Lichte der Energetik zu untersuchen, kann sich aber die Soziologie auf keinen Fall entziehen.“[55]

4.2.2.1     Energie

Auf das Verständnis von Energie ist weiter oben bereits eingegangen worden. Es braucht an dieser Stelle also nicht mehr besonders ausgeführt zu werden, daß der Energiebegriff für die Kulturwissenschaft kein anderer ist, als für die energetischen Wissenschaften. Allerdings ergeben sich für diesen speziellen Fall besondere Aspekte, die hauptsächlich in der 3. Vorlesung über ‘die rohen Energien’ behandelt werden. Hier wird auf die energetische Situation unseres Heimatplaneten, der Erde näher eingegangen.

Die Erdoberfläche wird dauernd von der Sonne mit riesigen Mengen an Energie bestrahlt. Dabei ändert sich die Intensität der Bestrahlung in zwei Perioden: Tag-Nacht und Winter-Sommer. Die während der warmen Perioden eingestrahlte, auf der Erdoberfläche nicht verwertete Energie wird während der kalten Perioden wieder in den Weltraum abgestrahlt. Auf diese Weise steht, global betrachtet, ständig die gleiche Menge an Energie zur Verfügung.[56] Diese wird von den Pflanzen aufgefangen und in chemischer Form gespeichert. Diese Speicherung ist Grundvoraussetzung für kontinuierliches Leben, da für den stationären Prozeß des Lebens ein stetiger Energiefluß vorhanden sein muß (Anschauungsmodell: Flamme), der ja ohne ausreichende Sonnenbestrahlung in der Nacht, bzw. im Winter abreißen würde. „Die chemische Energie aus den Pflanzen ist nun das Energiekapital, aus welchem alles Leben auf Erden erhalten wird.“[57] Neben der lebenden Biomasse hat sich in der Erde im Lauf der Zeit auch ein Vorrat an fossilen Brennmaterialien angesammelt.

Das vorhandene Energie-Kapital, in Form der ständig neu eingestrahlten Sonnenenergie zum ersten, in der umgewandelten Form der Biomasse zum zweiten und letztens in der fossilen Form steht der Menschheit zur Nutzung als ‘rohe Energie’ zur Verfügung. Mit Hilfe der verschiedensten Techniken gelingt es ihr, diese in mehr oder minder großem ‘Güteverhältnis’ in Nutzenergie umzuwandeln.

4.2.2.2     Das Lebewesen Mensch

Lebewesen sind Gebilde mit stationärem Gleichgewicht, das heißt, sie unterliegen bei annähernd gleichbleibender äußerer Form einem ständigen Stoff- und Energiewechsel. Es sind nach Wilhelm Ostwald zwei Arten von Lebewesen zu unterscheiden, diejenigen, die Sonnenenergie sammeln können und solche, die es nicht können. Letztere sind auf erstere als Energielieferanten angewiesen. Die Gruppe der Energiesammler nennen wir Pflanzen, die anderen sind die Tiere. Der Überlebenskampf zwischen den Arten und Individuen ist immer ein Wettbewerb um die vorhandenen Energien. Schutz kostet ebenso Energie, wie Angriff. Überlegen ist der, der mehr Energie für den Kampf zur Verfügung hat. Energetisch günstiger ist jedoch immer die Vermeidung des Kampfes, jedoch nur insoweit durch den freiwilligen Ausgleich, das heißt widerstandslose Hingabe ganzer Teile des Lebewesens bzw. der Spezies, nicht einer der Kontrahenten unter das Minimum seines Energiebedarfes gerät. Dann wäre der Unterlegene der Vernichtung preisgegeben, der Überlegene aber auch, sofern er mit ihm seinen Energiespender verliert.

Menschen sind für Ostwald Tiere, die gegenüber anderen Arten keine vorteilhaften Eigenschaften besitzen, außer der Größe und Leistungsfähigkeit ihres Gehirnes. Dieses versetzt sie in die Lage, Werkzeuge und Maschinen zu benützen, Energien zu nutzen, die nicht aus ihrem Organismus stammen, sowie sich solche fremde Energien auch aus ferneren Gegenden zu beschaffen. Werkzeuge sind Hilfsmittel, „durch welche er [der Mensch] seine eigene Muskelenergie zweckmäßig transformiert“[58]. Ein Messer oder eine Axt beispielsweise konzentrieren die Kraft des Armes auf die nur Bruchteile von Millimetern breite Schneide und ermöglichen so ein müheloses Eindringen in das Schneidegut. Maschinen dienen „zur Transformation fremder Energien“[59]. Eine Mühle als Beispiel, verwendet Wind oder Wasserkraft um den Mühlstein zu drehen, eine Auto ist eine Maschine, die Treibstoff in Bewegungsenergie umwandelt. Der Mensch hat nicht nur einen angeborenen Satz an Werkzeugen für ganz bestimmte Zwecke, wie Zähne oder Klauen, sondern er ist in der Lage, diese sich in der Umgebung zu suchen bzw. sich selbst anzufertigen. „Die Entwicklungsgeschichte der Kultur erweist sich im Lichte der energetischen Auffassung als die Entwicklungsgeschichte des Werkzeugs einerseits, und als die Geschichte der Einbeziehung fremder Energien in menschliche Zwecke und die Ausbildung entsprechender Maschinen zu ihrer Umgestaltung andererseits.“[60] Dabei betrachtet Ostwald das Gehirn als ein Organ, das psychische Energie mit Hilfe des ganzen Körpers, mit seinen Muskeln und Sinnesorganen umsetzt, ähnlich wie ein Muskel, chemische Energie mit Hilfe der Sehnen und Gelenke in mechanische Energie umsetzt.

Für den Betrieb von Maschinen sind fremde Energien erforderlich. Dafür stehen grundsätzlich drei Arten von Energien zur Verfügung: anorganische, organische (pflanzliche und tierische) sowie menschliche. Die erste Gruppe sind die bekannten Rohenergien Sonnenenergie, Wind- und Wasserkraft oder Kohle, unter die zweite Gruppe müßte man Pferde und Ochsen rechnen, und die dritte sind alle sozialen Abhängigkeits- und Ausnützungsverhältnisse wie z.B. die Sklaverei.

4.2.2.3     Gesellschaft

Die achte Vorlesung trägt den Titel Vergesellschaftung. Darin kommt deutlich zum Ausdruck, daß Ostwald Gesellschaft nicht als statisches Gebilde, sondern als immerwährenden Prozeß sieht, ganz ähnlich, wie das auch Norbert Elias beschreibt, ohne daß sich dieser zu dergleichen Werturteilen hinreißen läßt. Von den ‘primitiven’ Gesellschaften der Urzeit bis zur komplexen Gesellschaft des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sieht Ostwald einen dauernden Differenzierungsprozeß hin zur ‘besseren’ Gesellschaft. Bei Elias ist es der Prozess der zunehmenden Affektkontrolle, der Dämpfung der Triebe, das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsgrenze, der zur Ausdifferenzierung der Zivilisation führt. Aus der Sicht des Bürgers wilhelminischer Zeit führt die Vorstellung eines Menschen, der „seinen Neigungen in vielen Richtungen offen nachgehen [konnte], die inzwischen mit gesellschaftlichen Verboten belegt und unauslebbar geworden sind“[61], zu dem Schluß, „daß man sich den Urmenschen gar nicht dumm, schlecht, roh, egoistisch, gemein oder sonst tadelhaft genug im Sinne der gegenwärtigen Ethik vorstellen kann.“[62] Aber während Elias sich darauf beschränkt, den „Prozess der Zivilisation [als] eine Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung“[63] zu beschreiben - übrigens mit Methoden, „deren bestbekanntes Gegenstück in den physikalischen Naturwissenschaften die Experimente [sic!]“[64] sind - fordert Ostwald ganz vehement den Einsatz der ‘Großen Männer’, der Wissenschaftler und Politiker, diesen Prozeß zu beschleunigen und zu optimieren. Vergesellschaftung ist kein sich selbst steuernder Vorgang, sondern sie wird getragen von der Schaffenskraft der sie konstituierenden Menschen. Sie ist (sollte) darauf ausgerichtet (sein), die lebensnotwendigen Funktionen so zweckmäßig, d. h. so energiesparend wie möglich auszuführen. Dies wird ermöglicht durch das Prinzip der Arbeitsteilung. Leider bleibt er an dieser Stelle eine genauere Ausführung dessen, was er unter den lebensnotwendigen Funktionen einer Gesellschaft versteht schuldig. Mit einer für einen Naturwissenschaftler untypischen, aber in der Ostwaldschen Kulturologie leider sehr häufigen, begrifflichen Ungenauigkeit taucht im Kapitel über ‘Wert und Tausch’ das Lebensnotwendige nicht als Funktion, auch nicht als eine Form der Arbeit (wie dies die synonym gebrauchten Begriffe Funktionsteilung und Arbeitsteilung erwarten lassen könnte), sondern als Wert auf. „Unmittelbare Werte sind die Lebensbedürfnisse im weitesten Sinne“[65]. Als solche Grundwerte sieht er Nahrung, Kleidung und Wohnung an. Daraus kann man schließen, daß für Ostwald lebensnotwendige Funktionen solche wären, die in der Natur vorhandene Rohenergien in Nahrung, Kleidung und Wohnung umwandeln, und lebensnotwendige Arbeiten wären demnach menschliche Tätigkeiten, die diese Funktionen (möglichst energieeffektiv) erfüllen. Das Prinzip der Arbeitsteilung ist somit Grundvoraussetzung der Vergesellschaftung, weil dadurch eine Verbesserung der Nutzung der Rohenergien ermöglicht wird. So muß ein Mensch, der nicht in eine Gesellschaft eingebunden ist, alle Arbeiten zur Befriedigung der Grundwerte alleine ausführen. Durch Konzentration auf einzelne Tätigkeiten kann er die Funktionen zwar mit geringerem Energieaufwand, sprich mit einem ‘besseren Güteverhältnis’ bewerkstelligen, dafür muß er aber andere Funktionen anderen Menschen überlassen.

4.2.2.3.1     Sprache

Die Auffassung von Sprache, die Ostwald hier seinen energetischen Betrachtungen unterzieht, entspricht nicht annähernd dem Stand der heutigen Kommunikationsforschung. Nicht nur an dieser Stelle ist das lineare (mono)kausale Denken ein Hindernis, komplexe Systeme wahrzunehmen. Die hieraus resultierende Auffassung von Sprache ist auch der Ausgangspunkt seiner Bemühungen um eine künstliche Weltsprache. Wie Ostwald Kommunikation sah und in den Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaften dargestellt hat, soll im folgenden Abschnitt ausgeführt werden.

Dadurch, daß die Funktionen unterschiedlich unter den Menschen aufgeteilt sind, entsteht die Notwendigkeit der Kommunikation. Ohne eine Sprache kann Funktionsteilung nicht stattfinden, da Erfahrung und Wille, so Ostwald, ohne sie nicht mitteilbar wären. Bei der Sprache handelt es sich „um eine zweimalige Zuordnung: zuerst ordnet der Mitteilende seinem Gedanken A das Zeichen B zu, und dann ordnet der Empfangende, nachdem er das Zeichen B aufgenommen und verstanden hat, den Gedanken A diesem Zeichen zu und hat dadurch denselben Gedanken wie jener“[66]. Die Erfahrung der Erreichbarkeit von Rohenergien und deren Nutzbarkeit werden von den verschiedenen Individuen einer Gruppe gesammelt und mittels der Sprache untereinander ausgetauscht. Durch die Anhäufung dieses Wissens über einzelne Funktionen wird das einzelne Individuum in die Lage versetzt, die Arbeit durch Erfindungen effektiver zu gestalten. Andererseits kann durch den Verkehr, wie Ostwald die Kommunikation nennt, auch der Wille vermittelt werden. Dieser Begriff bleibt ungenau. Hier scheint damit lediglich die Äußerung der Bedürfnisse des Lebens gemeint zu sein. An anderer Stelle widmet er dem Willen ein eigenes Kapitel. Dort wird klar, daß er mit Willen nur bewußte menschliche Reaktionen bezeichnet. Im Gegensatz zu Schopenhauer lehnt er alle Betrachtungen über den Willen in der unbewußten Natur ab. Eine willentliche Handlung bedeutet immer eine bewußte Anwendung eines Mittels zur Erreichung eines bestimmten Zieles. Eine Willensregung ist ein energetischer Vorgang. „Der Vorgang wird durch andere Formen der Nervenenergie ausgelöst, die sowohl aus dem Gebiete des Empfindens wie dem des Denkens stammen können“[67]. Die Willensenergie muß in chemischer Form in dem betreffenden Ausführungsorgan bereitliegen.

Natürliche Sprachen sind nach Ostwald alle sehr unvollkommen. Durch die große Anzahl von Synonymen und Homonymen, so glaubt er, entsteht ebenso, wie durch Übersetzung zwischen den verschiedenen Sprachen, beim sprachlichen Verkehr eine große Energievergeudung. Zur Abhilfe fordert er eine künstliche Weltsprache, an der er tatkräftig mitarbeitet. Eine solche Sprache muß eine eindeutige Begriffszuordnung haben und eine einfache Grammatik.

Während Sprache unabdingbarer Bestandteil der Gesellschaft ist, sind Justizsystem und Wirtschaftssystem lediglich Werkzeuge zur Steigerung des Güteverhältnisses in bezug auf die verschiedenen Bereiche des Zusammenlebens aufgrund der Arbeitsteilung. ‘Recht und Strafe’[68] vermitteln den Willen des Wohlwollenden auf den Schutzbefohlenen (Mutter-Kind) bzw. des Mächtigen auf den Untergebenen (Herr-Sklave), während auf der anderen Seite der Tausch die Produkte der Arbeit zurück an den Punkt des eigentlichen Bedürfnisses bringen soll. Den beiden Subsystemen von Gesellschaften widmet Ostwald eigene Kapitel.

4.2.2.3.2     Recht und Strafe

„Als Quelle des Rechtes kann ich keine andere erkennen, als die Gewalt. Nicht so, als wäre die Gewalt der Inhalt des Rechtes oder der Grund, auf welchem es beruht. Sondern in solcher Gestalt, daß das Recht allmählich die Stelle der Gewalt einnimmt, und es in allen menschlichen Dingen um so mehr Recht gibt, je weniger die vorhandene Gewalt sich betätigt.“[69] Gewalt ist hier wörtlich zu nehmen als körperliche Zwangsausübung des stärkeren Menschen auf den schwächeren. Dieser Zwang bedeutet einen Energieaufwand für alle Beteiligten, der durch die Einführung von Recht verringert wird. Ostwald glaubt also nicht, daß es zur Schlichtung gewalttätiger Auseinandersetzungen unbedingt einer übergeordneten Instanz bedarf, die stärker ist als beide Kontrahenten, sondern, daß diese von selbst durch energetische Überlegungen zu dem Schluß kommen, daß ein Rechtssystem günstiger ist, als der offene Kampf.

Ähnlich wie bei der Sprache lehnt Ostwald das bestehende Rechtssystem als weitgehend unbrauchbar ab. Es entspricht nicht den von ihm postulierten Mindestanforderungen. Er beklagt „die Rückständigkeit der Rechtswissenschaft, welche bis vor kurzem die Rechtsbücher des heruntergekommenen oströmischen Reiches, in welchem die gesunden, wenn auch äußerst beschränkten Grundgebilde der altrömischen Rechtsgestaltung mit der übelduftenden Sauce einer in voller Selbstzersetzung befindlichen Rabulistik sich übergossen finden, als unübertreffliche Muster alles möglichen und denkbaren Rechtes verehrt hat.“[70] Mit diesen drastischen Bildern will Ostwald hier deutlich machen, daß soziale Gebilde, wie das Recht, sich zwar selbsttätig weiterentwickeln können, aber auch durch die eigenmächtige Inbesitznahme durch eine Gruppe als bloßer Fetisch mißbraucht werden kann, und dadurch dem Güteverhältnis der Gesamtgesellschaft nicht mehr angepaßt wird. Dieses Gebilde stabilisiert sich demnach durch die Nützlichkeit nicht für die Gesellschaft, sondern für eine begrenzte Gruppe. Dies ist nur so lange zu akzeptieren, wie die Gesellschaft keine Nachteile erleidet, so lange insgesamt nicht Energie verschwendet wird.

Aus diesem Nützlichkeitsdenken heraus hat Ostwald auch seine Auffassung von Strafe formuliert. Strafe dient in erster Linie zur Wiedergutmachung des angerichteten Schadens. In zweiter Linie dient sie der Abschreckung, indem der Aufwand, den der Täter durch die Strafe aufbringen muß, dem Nutzen, den er durch die Straftat erhalten hat weit übersteigt. Das bedeutet, daß neben der Rückerstattung des Schadens zusätzlich eine individuell angepaßte Bestrafung erfolgen muß. Diese richtet sich nach den Verhältnissen des Täters, d.h. ein ärmerer wird durch eine Geldstrafe mehr bestraft als ein Vermögender, während der Reiche eher durch eine Gefängnisstrafe ruiniert werden kann. Er stellt den Satz auf, „daß eine jede Strafe verhältnismäßig, nicht absolut gleich bemessen werden soll.“[71]

Die Strafe sorgt zwar für einen Ausgleich des entstandenen (energetischen) Schadens, bzw. für eine Verhinderung der Tat überhaupt, sie erfordert aber eine übergeordnete Instanz, damit es nicht zur Eskalation kommt, da der Geschädigte den Schaden immer höher einschätzt als der Schädiger. Eine direkte Vergeltung würde also nicht akzeptiert werden, deshalb ist es von Vorteil, wenn „die Bestimmung der Genugtuung ebenso wie ihre Ausführung durch ein drittes, unparteiisches Tribunal bewerkstelligt“[72] wird. Diese Instanz soll die Reaktion auf die Rechtsverletzung so festlegen, „daß ein möglichst geringer sozialer Energieverlust daraus entsteht.“[73]

Versucht man diese Ausführungen über das Rechtssystem zu verallgemeinern, so ergibt sich das Bild, daß bestimmte Institutionen deswegen existieren, weil sie Funktionen der Vergesellschaftung mit einem geringeren Energieaufwand ausführen, als andere oder gar keine Institutionen.

4.2.2.3.3     Wert und Tausch: die Wirtschaft

Grundlage aller Werte in der Gesellschaft ist die Energie. Prinzipiell ist die Menge an Energie, die in einem Gegenstand steckt, der Maßstab für dessen Wert. Dazu wird aber nicht nur die frei nutzbare Energie gerechnet, sondern alle Energien, die im Laufe des Produktionsprozesses und der Verteilung aufgewendet werden, um die ‘wünschenswerte oder notwendige Beschaffenheit’ des Gegenstandes herzustellen. Der so entstandene Wert wird dann nach Angebot und Nachfrage korrigiert. So haben die verschiedenen Energien unterschiedliche Werte je nach ihrer Erreichbarkeit. An unterster Stelle rangiert die Sonnenenergie, da sie unaufhörlich in ungeheuren Mengen zur Verfügung steht. Die Umwandlungsprodukte der Sonnenstrahlung, deren Transformationen, haben ihren Wert je nach dem Grad ihrer Nützlichkeit für menschliche Zwecke. Ostwald ordnet die verschiedenen Energiearten in ungefähr folgender Reihenfolge mit steigendem Wert an: anorganische, meteorische Energien, wie Wind, Regen, Flüsse etc.; organische Energien in Form von Nahrung, Brenn- und Baumaterialien; die Transformationen der anorganischen und organischen Energieformen in Mühlen und (Wasser-)Kraftwerken; die fossilen Brennstoffe; Elektrizität und Licht; die Arbeitskraft der Menschen und zuoberst die geistige Energie.[74]

Die Elemente des wirtschaftlichen Geschehens sind die verschiedenen Roh- und Nutzenergien, die Energietransformatoren, wie er die Produktionsmittel bezeichnet, der Markt, mit Angebot und Nachfrage sowie Geld. Der Wert der Produktionsmittel ergibt sich im Gegensatz zum Wert der Energien aus dem Durchsatz an Roh- und Nutzenergien, die in ihnen transformiert werden können. Zu diesen Transformatoren oder ‘Maschinen’ zählt Ostwald nicht nur Motoren und andere technische Geräte, sondern auch den Menschen selbst, mit seiner Muskelkraft und den geistigen Fähigkeiten. Der Markt ist ein effektiver Treffpunkt, an dem sich zu einer bestimmten Zeit die Tauschlustigen zusammenfinden können, ohne sich mit großem Energieaufwand erst suchen zu müssen. Daß dabei gegenüber der alternativen Situation, daß jeder jeden suchen müßte, Energie gespart wird, ist fast schon eine Banalität wenn man Ostwalds Gedankengänge nachvollzieht. Das Geld ist zwar ein Äquivalent zur Energie, darf aber nicht mit dieser gleichgesetzt werden. Geld ist wie die Energie in seine verschiedenen Formen umwandelbar. Jedoch, „man würde sich eines schweren Irrtums schuldig machen, wenn man aus dieser Ähnlichkeit auf wesentliche Gleichheit schließen würde“[75]. Damit meint Ostwald, daß Geld nicht den Betrag an Energie beinhaltet, dessen Wert es repräsentiert, es hat nur symbolischen Wert. Es hat durch die Eigenschaft der freien Konvertierbarkeit aber eine enorme technische Bedeutung, indem es ermöglicht, „daß ein jedes Ding an den Ort kommt, wo es den größten Wert darstellt, der dafür möglich ist“[76]. Diese Darstellung ist sicherlich zu optimistisch, aber bestimmt nicht ganz falsch.

4.2.2.3.4     Der Staat und seine Gewalt

Die Organisation des Staates dient dazu, die menschlichen Energien für gemeinsame Zwecke wirksam zusammenzufassen. „Dies ist der Sinn und Wert eines jeden Staates, und sein Leben und Gedeihen hängt davon ab, wie vollkommen er diese Zusammenfassung im Interesse aller Beteiligten auszuführen vermag.“[77] So soll der Staat möglichst viele der zentralen Funktionen unter seine Kontrolle bringen. Neben der Streitmacht sind dies zum einen möglichst großer Besitz an Geld, da durch die private Konzentration des Kapitals dem Staat ernsthafte Konkurrenz aus dem Inneren droht, sowie zum anderen die Kontrolle des Geldverkehrs überhaupt, da durch das Verleihen von Geld es sich ‘automatisch’ beim Verleiher konzentriert, des weiteren die Kontrolle über die Rechtspflege ebenso wie über Bergwerke, Fabriken und Eisenbahnen.

Am Beispiel der Streitkräfte läßt sich vielleicht am einfachsten nachvollziehen, wie Energie einen entscheidenden Einfluß auf den Fortgang der Geschichte hat. Nicht nur die Größe der verfügbaren Ressourcen spielt hier eine Rolle, sondern auch die Taktik und die Schlagkraft, d.h. die Art und Weise, wie diese Ressourcen effektiv eingesetzt werden können. Die Heeresleitung hat dabei die Aufgabe, das Güteverhältnis zwischen eingesetzter Rohenergie und militärisch genutzter Energie zu optimieren.

Staaten entstehen durch die stetige Zusammenfassung kleinerer Horden und Ansiedlungen. So sind große Gruppen den kleineren überlegen und können diese überwinden und sich einverleiben. In Frankreich ist dies, nach Ostwalds Ansicht, seit dem Ausgang des Mittelalters auf diese Weise geschehen, so daß eine große Volksmenge unter eine starke Zentralgewalt kam. Durch die dergestalt entstandene Energiekonzentration erhielt Frankreich seine große Macht. Im Gegensatz dazu sieht er

„das Heilige Römische Reich Deutscher Nation daran zugrunde gehen, daß es keine zusammengefaßte Energie darstellte, sondern durch seine verunglückte Wahlorganisation umgekehrt eine Einrichtung geschaffen hatte, welche die anfangs durch eine Anzahl hochbegabter Herrscher gesammelten Energien beständig verkleinern und verzetteln mußte. Weil das mittelalterliche deutsche Kaisertum nicht über eine große organisierte Energiemenge in Gestalt eines stehenden Heeres verfügte, konnte es sich im Kampfe ums Dasein nicht erhalten.“[78]

Ein Staat handelt am effektivsten, wenn er das meiste Kapital in sich konzentriert, da die Macht des Geldes mehr und mehr im Vergleich zur militärischen Macht die Oberhand gewinnt. Ostwald verweist allerdings schon 1909 darauf, daß sich hierdurch gleichzeitig „der Begriff des Staates mehr und mehr [auflöst], da das mobile Kapital schon längst international geworden ist und die Tatsache der Weltwirtschaft eine staatliche Schranke nach der anderen niederreißt“[79].

4.2.2.3.5     Wissenschaft

Das allgemeine Ziel, die Energie für die Menschheit so effektiv wie möglich zu verwenden, wird mit Hilfe der Wissenschaft angestrebt. Alle Kultur beruht auf Wissenschaft. Ostwald bezeichnet sie „als die Technik des systematischen Voraussagens oder Prophezeiens[, wobei nur jene Kenntnisse zur Wissenschaft zählen, insofern sie] diesen prophetischen Charakter nachweisen“[80] können. Nur wenn zukünftige Ereignisse mit einiger Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden können, dann sind wir in der Lage, die Handlungen so einzurichten, „daß wir die erwünschten Verhältnisse mit dem geringsten Energieaufwande erreichen“[81].

Wissenschaft ist international, da alle Völker ihren Beitrag zu ihr leisten. Die Wissenschaftler bilden auch ohne formale Organisation eine Gemeinschaft über alle staatlichen Grenzen hinweg, da „jeder Arbeiter innerhalb der Wissenschaft [...] für jeden kleinsten Fortschritt auf die Mitwirkung zahlloser anderer Menschen angewiesen“[82] ist.

Den Fortschritt in der Wissenschaft leisten die ‘Großen Männer’, sie bauen auf dem Bekannten auf und dringen in unbekannte Wissensgebiete vor. Die dazu nötige Begabung ist hier zu sehen als eine körperliche ererbte Eigenschaft, die aber gefördert werden muß. Aus diesem Grund legt Ostwald hohen Wert auf die Optimierung der Schulen im Sinne einer Vermittlung vom „Wissen um die Natur“[83]

4.2.2.4     Energetische Grundlagen: Zusammenfassung

Die Ideen, die Wilhelm Ostwald in den verschiedenen Büchern zum Thema der Energetik in Nicht-Naturwissenschaften zu vermitteln versucht, sind nur schwer isolierbar, und zudem durch normative Vorstellungen geprägt. Eigentlich wird in den Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft nur die eine Idee deutlich, die auch der Pyramide der Wissenschaft zugrunde liegt: Ergebnisse der energetischen Wissenschaften Physik und Chemie sind Grundlage für die Kulturwissenschaft, die ihrerseits aber nicht hinreichend aus diesen Grundlagen erklärt werden kann. Dieser Zusammenhang ist Ostwald aber zur Zeit der Abfassung der Energetischen Grundlagen offensichtlich noch nicht so klar, als daß er ihn da schon ausdrücklich formulieren könnte. Dies liefert er erst zwanzig Jahre später nach. Eigentlich hätte er dann nochmals den ganzen Themenbereich der Gesellschaftswissenschaften aufgreifen müssen, dies war in dem 1914 groß angelegten und niemals weitergeführten Werk Moderne Naturphilosophie vorgesehen. Aber daß er diesen Nachtrag zur Organisation der Wissenschaften noch liefert ist um so erstaunlicher, als er zwei Jahre zuvor in seiner Autobiographie Lebenslinien schon resigniert und ein wenig traurig auf die organisatorische Tätigkeit in seiner Vergangenheit zurückblickt. Er beschreibt den Forscher als ‘Gärtner’, während der Organisator der ‘Straßenbauer’ ist. Dann fährt er fort:

„Und wer am Wege baut, hat viele Meister, die ihn be- und verurteilen. Meist wegen Sachen, die er weder gesagt und getan hat; wenn er dies aber zu erklären versucht, so gibt es einen neuen Grund, ihn zu tadeln, daß er nicht das gesagt und getan hat, was seine Gegner von ihm behaupten. Kurz, er muß sich all den Lärm, Staub und üblen Geruch gefallen lassen, der sich von der Straße nicht trennen läßt. Solange man überschüssige Energie hat, setzt man sich leicht und gern darüber hinweg; vermindert sie sich, so ist es vernünftiger, sich in den stillen Garten der reinen Forschung zurückzuziehen, wo man die Arbeit auf das Maß der noch vorhandenen Leistungsfähigkeit einstellen kann.“[84]

So muß man es verstehen, wenn er im Vorwort der Pyramide dieses Buch als einen „bescheidenen Beitrag zu der lange vernachlässigten Aufgabe, den gesamten Zusammenhang aller Wissenschaften zu erforschen und darzustellen“[85] bezeichnet. Hier ist von dem fast überheblichen Selbstbewußtsein der früheren Jahre nicht mehr viel zu spüren.

4.2.3     Kritische Würdigung

Fügt man nun diese beiden Bücher zusammen, so ergibt sich folgendes Bild. Die Welt ist in ihrer Komplexität in verschiedenen Stufen aufgebaut. Sie strebt gemäß des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik der endgültigen Dissipation also der gleichmäßigen Verteilung der Energie im Raum entgegen, wobei die Wissenschaft, die die wirkliche Welt zum Gegenstand hat, den Sinn und den Zweck erfüllen soll, die Kenntnisse zu liefern, wie die Energie im Sinne der Menschheit optimal zu nutzen sei, bevor sie sich endgültig im Weltraum verteilt hat. Die verschiedenen Stufen der Komplexität werden in der Wissenschaft durch einzelne Begriffe charakterisiert, wobei die Begriffe der tiefer liegenden Stufen in den darüberliegenden Stufen grundlegende Bedeutung entfalten. Grobe Stufen dieser Komplexität werden in aufsteigender Folge durch die Begriffe Ordnung, Energie, Leben und Gesellschaft repräsentiert. Die Gesellschaft hat somit Ordnung, Energie und Leben zur Voraussetzung. Die Kulturwissenschaft behandelt den Teil der Realität, der Gesellschaft genannt wird und muß deshalb auf die Wissenschaften der Ordnung, der Energie und des Lebens, Mathematik, Energetik und Biologie zurückgreifen. Diese Wissenschaften können gesellschaftliche Erscheinungen jedoch nicht erklären und beschreiben, sondern nur ihre Voraussetzungen. Jenes kann nur die Soziologie leisten. Die Energetik bezeichnet eigentlich nur die Naturwissenschaften im engeren Sinne, also Physik und Chemie. Ihr zugrunde liegen die abstrakten mathematischen Ordnungswissenschaften, und auf sie bauen die Biowissenschaften auf. So hat jedes wissenschaftliche Gebiet seine Daseinsberechtigung, die Soziologie bzw. die Kulturologie, wie sie von Ostwald genannt wird sogar an oberster, wichtigster Stelle, was für den Naturwissenschaftler und erklärten Energetiker Ostwald schon erstaunlich zu nennen ist. Aus der Anschauung der oberen Stufen der Wissenschaften erhalten auch die (abstrakteren) tieferen Stufen Lösungsmöglichkeiten für ihre Probleme und ebenso sind die Ergebnisse der tieferen Stufen förderlich für die höheren.

An dieser Stelle würde man nun aber konkrete Vorschläge von Ostwald erwarten, auf welche Weise der Gesellschaftswissenschaftler empirische Untersuchungen an seinem Gegenstand im Sinne der Energetik vornehmen soll. Leider sucht man danach in den Schriften Ostwalds vergeblich. Man findet keinen Hinweis darauf, wie man z.B. die Kampfkraft von Armeen, die Umsätze einer Volkswirtschaft, oder Kosten und Erträge des Wissenschaftsbetriebes mit energetischen Mitteln und Methoden zu messen versuchen soll. Statt dessen wird man auf fast jeder Seite mit Belehrungen konfrontiert, wie man Kriegsführung, Wirtschaft oder Wissenschaft verbessern könnte, obwohl man deutlich erkennt, und Ostwald ja auch wiederholt selbst darauf hinweist, daß er von den meisten Gegenstandsbereichen allenfalls dilettantische Kenntnisse besitzt. Auf diese Weise ist leicht vorstellbar, daß seine Zeitgenossen ihm kaum mehr Gehör schenkten, als irgendeinem anderen Weltverbesserer, der aber nicht den immensen Schatz naturwissenschaftlichen Wissens eines Chemienobelpreisträgers in sich trägt.

Obgleich er bereits selbst feststellt, daß lineare Kausalitäten oftmals nicht ausreichen, die Komplexität der Denkvorgänge befriedigend abzubilden, so hat er doch noch nicht die Möglichkeiten systemisch vernetzten Denkens zur Verfügung. Streng genommen ist die Pyramide eine kausale Kette, in der ein Teil den anderen voraussetzt. Dies legt den oft gemachten, jedoch unberechtigten Vorwurf nahe, daß es sich hier um ein deterministisches Weltbild handelt. Dieser Vorwurf ist deshalb unberechtigt, weil immer darauf hingewiesen wird, daß die Erklärungsmodelle der tiefer gelegenen Realitäten nur notwendige Voraussetzungen für die höheren liefern, aber nicht hinreichende Bedingung sind. Die Soziologie setzt (menschliches) Leben voraus, Leben wiederum Energie, und Energie basiert auf Ordnung. Eigentlich müßten sich nach dieser Theorie die Wissenschaften auch nach dieser Reihenfolge entwickeln. Daß dem anscheinend nicht so ist, läßt Ostwald selbst etwas ratlos bemerken: „Nun liegt aber die Ordnungswissenschaft tief unter der Psychologie; diese dürfte nach der allgemeinen Regel (die sonst immer zutrifft) keinen Einfluß auf die Ordnungslehre haben. Sie hat ihn aber tatsächlich. [...] Ich weiß da zurzeit keinen Rat. Ich halte es für wahrscheinlich, daß künftig eine Betrachtungsweise gefunden wird, welche die Sache in Ordnung bringt“[86].

Die Schwächen der Ostwaldschen Gedanken liegen hauptsächlich in der linearen Sichtweise und könnten durch eine Überarbeitung mit systemischem Ansatz zum Teil beseitigt werden. Andererseits ist auch ein großes Maß an - in seiner Generation sehr stark vorhandenen - Enthusiasmus und naiven Optimismus in einigen Details zu erkennen, was wohl schon zu seiner Zeit, ganz sicher aber heute erschreckend wirkt und offensichtlich zu einer kompletten Ablehnung des Ansatzes führte.

Zum Beispiel postuliert Ostwald in Anlehnung an den Kantschen Kategorischen Imperativ den ‘Energetischen Imperativ’ als Leitlinie jeglichen Handelns: „Vergeude keine Energie, verwerte und veredle sie“[87] Dieser Satz könnte als extremste Form eines Liberalismus bezeichnet werden, wobei auf jegliche humanistische Moral keinerlei Rücksicht genommen werden soll. Dieser Satz beinhaltet bei ihm auch, daß Eugenik mit den Methoden der ‘Zuchtwahl’ und der ‘Sterilisation der unbedingt Minderwertigen’ zur selbstverständlichen Wissenschaft wird, die der Frage nachgeht, „wie schaffen wir die physiologische Grundlage für ein besseres, schöneres, leistungsfähigeres Menschengeschlecht [und] wie befreien wir die Menschheit von bösem, blödem, tierischem Erbgut“[88]. Auch die elitäre Einstellung zu den Massen bezüglich demokratischer Verfassungen wirkt erschreckend, angesichts der Folgen, die solche Gedanken seit den dreißiger Jahren in Deutschland und anderswo in der Welt zeitigten: „Heute [1929], wo auch in Monarchien die wichtigsten Angelegenheiten durch Mehrheiten des Volkes entschieden werden, hängt das Ergehen jedes Bürgers vom Erfolg der Werbungen ab, die für diese oder jene Entscheidung betätigt werden.“[89]

Diese nationalistische Haltung ist vielleicht ein Grund dafür, daß Ostwald selbst nicht in der Lage war, die Vorteile, die sich aus der Systematisierung der Wissenschaften gerade für die Soziologie ergeben könnten, genügend deutlich zu machen. Eine weitere Ungereimtheit im Weltbild Wilhelm Ostwalds ist, daß er ganz im Sinne von Ranke im Grunde ein vehementer Verfechter der herausragenden Bedeutung der Großen Männer[90] ist, die die Wissenschaft (und somit wohl auch die Gesellschaft) voranbringen. Dazu paßt eigentlich nicht, daß Gesellschaften eigene Gesetze haben, die nicht mit dem Genie einzelner Männer zu erklären sind. Abgesehen von der fehlenden moralischen Regulierung scheint er den Einfluß des einzelnen, mit soziologischem Wissen ausgestatteten Handelnden viel zu hoch einzuschätzen und meint, ähnlich wie ein Chemiker eine Chemiefabrik aufbauen kann, könne auch ein Eugeniker ein gesundes starkes Volk züchten, oder ein Sprachwissenschaftler eine neue effizientere Sprache entwickeln. Er registriert zwar die Begrenztheit des Wissens, das der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft auch mit Hilfe der Energetik zur Verfügung steht, er zieht daraus aber nicht die Konsequenz, vorsichtig mit Schlüssen und Prognosen umzugehen.


Literaturhinweise

[1]       Georg Helm war Mathematiker und Physiker in Dresden

[2]       Dieses Thema konnte hier nur angedeutet werden. Näheres bei Browarzik, Hoberg, Rätzsch (1979).

[3]       LL II, 184 f.

[4]       Veröffentlicht in: Ostwald (1904), 220-240

[5]       LL II, 184

[6]       Deltete (1983), 257

[7]       a.a.O., 258, Anm. 16

[8]       LL II, 168

[9]       LL II, 171ff.

[10]      EGK, 2 und Pyramide, 113

[11]      EGK, 8

[12]      Energie, 123

[13]      Schirra (1991), 195

[14]      Nur ein Beispiel: wenn zwei Würfel mit jeweils 1 cm³ Volumen zusammengesetzt werden, dann entsteht ein Volumen von 2 cm³. Hat der eine jedoch eine Temperatur von 50°C der andere aber 20°C dann werden beide, nach einiger Zeit des Ausgleichs, eine Temeperatur von 35°C annehmen und nicht 70°C.

[15]      Energie, 101

[16]      Pyramide, 117

[17]      Energie, 126

[18]      Energie, 145

[19]      EGK, 70

[20]      EGK, 82

[21]      EGK, 161

[22]      Mayer, J.R. (1842): Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur. In: Ann. Chem. 42, 233.

[23]      EGK, 23

[24]      EGK, 24

[25]      Ritter, 1

[26]      Erfinder, 5

[27]      Grundriß, 193

[28]      a.a.O.

[29]      Lamprecht (1894), VI

[30]      a.a.O

[31]      Werte, 277

[32]      Pyramide, 5. Bereits in seiner Antrittsvorlesung in Leipzig im November 1887 beginnt er mit dem gleichen Gedanken: „Die Arbeit an den großen Problemen verschwinde immer mehr und mehr, sie mache einer atomistischen Zersplitterung in lauter Einzelfragen Platz, und selbst die Universität sei nicht mehr im stande, ihren Dienern und Jüngern die Universalität zu vermitteln.“ Wandlungen, 185.

[33]      vgl. LL III, 313ff.

[34]      Pyramide, 85

[35]      mit Ausnahme der Ordnungswissenschaften, die selbstverständlich nicht empirisch sein können. Hier taucht die Frage auf, ob die Ordnungswissenschaften deshalb sinnlos seien. Vgl. S. 17.

[36]      Popper (1934/1994), 15

[37]      Forderung, 10

[38]      In der ‘Forderung des Tages’ (1904) heißen die Stufen Mathematik, Energetik und Biologie. Die ‘Vorlesungen über Naturphilosophie’ (1902) beginnen mit den Kapiteln über Begriffe und ihre Relationen, beschreiben dann das energetische Weltbild, dann das Leben, und enden mit der Darstellung des geistigen Lebens. Hier scheint die soziale Dimension noch nicht so klar erkannt worden zu sein.

[39]      Pyramide, 148

[40]      Nach MS 2, 346

[41]      Ostwald (1924), 144f. Diesen Satz interpretiert Eckard Daser völlig falsch, wenn er mit Bezug auf genau diese Textstelle schreibt: „Da Leben nichts anderes ist als auf Dauer und Reproduktion strukturierte Energie, ist a) die Deduzierbarkeit der b) Naturgesetzlichkeit der Lebensphänomene aus höheren Naturgesetzen in diese Behauptung impliziert und damit die Auflösbarkeit des Lebens in Exaktheit.“ (Daser (1980),264 Anm. 2.) Genau das Gegenteil ist von Ostwald gemeint!

[42]      Ordnungswissenschaften IX-XII

[43]      Pyramide, 107

[44]      Pyramide, 113

[45]      Naturphilosophie, 164 f. sowie, 202-227

[46]      Naturphilosophie, 260 und Energie, 85

[47]      Pyramide, 116

[48]      Pyramide, 125

[49]      Pyramide, 144

[50]      vgl. Pyramide, 142ff.

[51]      Pyramide, 146

[52]      EGK, 3

[53]      Die hat Max Weber in seiner Rezension völlig falsch verstanden. Vgl Weber (1909), 424

[54]      a.a.O.

[55]      a.a.O.

[56]      EGK, 6. Leider übersieht Ostwald an dieser Stelle, wie übrigens moderne Thermodynamiker oftmals auch, daß die Erde nicht die Welt ist und sich auch das gesamte energetische Geschehen auf der Erde in einem stationären Fluß befindet. Es ist eben nicht so, daß die Summe der Energie auf der Erde gleichbleibt, sondern es ist vielmehr so, daß sich die eingestrahlte Energie mit der abgestrahlten ungefähr die Waage hält, jedoch zeitlich versetzt im Tages- und Nachtrythmus. Einen ähnlichen Fehler begehen die Thermodynamiker dann, wenn sie den 2. Hauptsatz der Thermodynamik (die Entropie eines geschlossenen Systems nimmt ständig zu) auf die Geschehnisse der Erde anwenden, weil das System der irdischen Natur in keinster Weise ein geschlossenes ist.

[57]      EGK, 43

[58]      EGK, 69

[59]      a.a.O.

[60]      EGK, 70

[61]      Elias (1969/1992) 2. Band, 329

[62]      EGK, 120

[63]      Elias (1969/1992) 2. Band, 312

[64]      Elias (1969/1992) 1. Band, IX

[65]      EGK, 148

[66]      EGK, 124

[67]      Naturphilosophie, 426

[68]      Überschrift der zehnten Vorlesung der EGK, 137

[69]      EGK, 137

[70]      EGK, 144

[71]      EGK, 143

[72]      EGK, 141

[73]      EGK, 146

[74]      vgl. Werte, 14. Kapitel

[75]      EGK, 155

[76]      a.a.O.

[77]      EGK, 160

[78]      EGK, 160f.

[79]      EGK, 161

[80]      EGK, 169

[81]      EGK, 170

[82]      EGK, 171

[83]      EGK, 184

[84]      LL III, 436

[85]      Pyramide, 7

[86]      Pyramide, 133

[87]      Pyramide, 142

[88]      Pyramide, 143

[89]      Pyramide, 146

[90]      vgl. Ostwald (1909): Große Männer